Die Experimente hielten sich aber oft in Klein- und Kleinstauflagen.
Evtl. ist bzw. war es auch eine selektive Wahrnehmung unserer Generation.
Mein 20 und 15 jähriger konfrontieren mich mit allem möglichen Trap, HipHop, Phonk und sonstigem „Shize“, wo ich denke, unter welchem einsamen Stein haben die das denn gefunden.
Dann werde ich aufgeklärt, dass dies und jenes gerade in den Staaten der angesagte Act mit Abermillionen von Streams ist.
Wir sind da einfach nicht mehr am Ball.
Selektive Wahrnehmung würd ich's nicht unbedingt nennen, eher vorsortierte Wahrnehmung.
Der plötzliche Hype für irgendwelchen Irrsinn war auch damals damals nur einen davon überzeugten Plattenleger entfernt, siehe das hier:
"Der kommerzielle Erfolg war aber wirklich eine Aneinanderreihung von Zufällen. Ich weiß zum Beispiel bis heute nicht, wie dieses "Bostich" auf den Plattenteller von WBLS und Frankie Crocker kam. Das war ja das Ding überhaupt für schwarze Musik damals. Befreundete Künstler in New York haben mich dann angerufen: "Du, da läuft die ganze Zeit deine Musik!", und ich dachte nur, der spinnt doch! Aber es war so. Das wurde ein Riesen-Dance-Hit. Kritiker in der Schweiz haben dann geschrieben, der schlaue Meier hätte das ganz genau geplant und wusste, dass so komische Musik nur auf Schwarzen- und Latino-Sendern gespielt würde. Totaler Schwachsinn. Ich weiß bis heute nicht, warum Crocker das gespielt hat." - Dieter Meier, 2009
Die Positionen waren einfach spärlicher gestreut. Was nicht auf seinen Multiplikator traf, wurde meist gnadenlos verramscht, nicht umsonst starben viele der grossen Untergrundhelden unverschuldet in Armut, nachdem sie zwanzig Jahre auf Pickuptrucks und in autonomen Abrissbuden gespielt haben.
Heute sieht's ökonomisch ganz anders aus, die Multiplikatoren haben sich wahnsinnig demokratisiert, müssen nicht mal menschlich sein, können auch einfach Algorhythmen sein, dank Bandcamp kannste danach unkompliziert einen Euro reinwerfen und dank Tiktok kannste komplett an der etablierten Industrie vorbei arbeiten (jedenfalls bevor diese dich dann meist aufkauft).
Und gleichzeitig hat sich natürlich auch die Masse vermehrt. Es ist heutzutage möglich, von den grössten Künstlern keinen Ton gehörtzu haben, selbst wenn man im Genre unterwegs ist. Aber weil's halt 3 Milliarden statt 3 Millionen potentielle Hörer gibt, können die immer noch ganz gut davon leben – und gleichzeitig kann die Industrie einem als Hörer all diese Leute gar nicht gleichzeitig den Hals runter würgen.
Ich mach regelmässig mit Bekannten einen Watch2gether-Abend auf Discord, wo wir der Reihe nach Songs mitbringen. Hab letztes Mal "Propane Nightmares" gespielt und der einzige, der es nicht kannte, war exakt derjenige, der im perfekten Alter dafür war, als das Ding gross ging – und trotzdem an ihm vorbei. In den 80ern noch völlig undenkbar, in den 00ern und vor allem heute absolut normal.