Wolfgang Lack
Elektronische Musik aus Köln
Zur Begriffsdefinition
Der Begriff "Elektronische Musik" wird in unserer Umgangssprache
scheinbar sicher, aber doch unreflektiert benutzt. Elektronische Musik ist
nicht nur "Musik elektronischer Musikinstrumente". Bis zum Ende der 40er
Jahre war es im deutschen Sprachgebrauch üblich, alle Instrumente, an
deren Klangentstehung bzw. -übertragung in irgendeiner Weise
elektrischer Strom beteiligt war, als elektrische Instrumente zu
bezeichnen. Konsequenterweise sprach man daher auch von elektrischer
Musik.
Wolfgang Martin Stroh, Elektronische Musik (1975), in: Hans Heinrich
Eggebrecht (Hrsg.), Handwörterbuch der musikalischen Terminologie.
(Franz Steiner) Wiesbaden 14. Auslieferung 1987.
Werner Meyer-Eppler versuchte der mit dem Aufkommen der
elektronischen Musik entstehenden terminologischen Verwirrung durch ein
spezielles System von Bezeichnungen zu begegnen. Dabei ging er
grundsätzlich von einer Unterscheidung zwischen verwendeten
Instrumenten und der Art ihrer Verwendung aus.
Werner Meyer-Eppler, Zur Terminologie der elektronischen Musik, in:
Technische Hausmitteilungen des Nordwestdeutschen Rundfunks
(Sonderheft über elektronische Musik) 6(1954), 1/2, 5-7.
Er unterschied zunächst "akustische" und "elektrische" Instrumente.
Prinzipiell sind jedoch alle Musikinstrumente »akustisch«, da sie
letztendlich Schallschwingungen produzieren, die das menschliche Ohr in
Form von Tönen wahrnehmen kann. Aus diesem Grund wären die
Bezeichnungen »nicht-elektrisch« oder besser »mechanisch« der
Benennung »akustisch« vorzuziehen.
Zu zusätzlicher terminologischer Verwirrung trug außerdem der
physikalische Gebrauch der Begriffe »elektrisch« und »elektronisch« bei.
Seit der Erfindung der Elektronenröhre (von Lieben, de Forest, 1906)
müsste man ausnahmslos von elektronischen Instrumenten und damit
auch von elektronischer Musik sprechen.
Im angloamerikanischen Sprachgebrauch verwendete man von Anfang an
das Adjektiv »electronic«, woraus sich auch »electronic music« ableitete.
Als Werner Meyer-Eppler für eine bestimmte Art des Komponierens mit
technischen Hilfsmitteln den Terminus »elektronische Musik« vorschlug,
ging es ihm dabei vor allem um eine Abgrenzung gegenüber den
bisherigen Entwicklungen der elektrischen Klangerzeugung, der
elektrischen Musik, zu der er auch die Musique concrète und die Music for
Tape zählte.
"Musik ist nicht schon dann "elektronisch" zu nennen, wenn sie
sich elektronischer Hilfsmittel bedient, da es hierzu keineswegs
genügt, die bereits vorhandene Tonwelt oder gar eine bestehende
Musik ins Elektroakustische zu übertragen."
Werner Meyer-Eppler, Elektronische Musik, in: Fritz Winckel (Hrsg.),
Klangstruktur der Musik, a. a. O., 135.
Der Hauptvorwurf den elektrischen Instrumenten gegenüber galt ihrer
bevorzugten Verwendung zur möglichst genauen Imitation konventioneller
Musikinstrumente orientierte. Damit wurden sie im Sprachgebrauch von
Verfechtern der neuen elektronischen Musik zu "elektrischen
Spielinstrumenten". Die neue, nun als »elektronische Musik« bezeichnete
Arbeitsweise sah dagegen ihre historischen Wurzeln in einer
kompositionstechnischen Entwicklung des 20. Jahrhunderts, genauer: als
Fortsetzung und Erweiterung der seriellen Kompositionsweise. Ihr Ziel
waren neue künstlerische Gestaltungsideen, die aus dem Klang selbst,
dem eigentlichen musikalischen Material entstehen sollten.
Herbert Eimert, Elektronische Musik, in: Technische Hausmitteilungen des
Nordwestdeutschen Rundfunks, a. a. 0.,5.
Damit wurde der technische Begriff "elektronisch" erstmals auch zur
Kennzeichnung eines bestimmten musikalischen Stils eingesetzt.
Demgegenüber wird in der zeitgenössischen Musik seit mehreren Jahren
zunehmend der Begriff "elektroakustische Musik" benutzt. Ziel dieser
erneuten, etwas irreführenden Begriffsprägung war einerseits die so für
jedermann ersichtliche Abgrenzung von den Entwicklungen der populären
"elektronischen" Musik sowie der deutliche Hinweis auf eine
gleichberechtigte Verwendung elektronischen und "akustischen" Materials
als Kompositionsgrundlage.
Das ästhetische Konzept der Kölner
Das in den 50er Jahren in Köln entwickelte Konzept besaß diesen
stilistischen Rahmen. Hier wurde der instrumentaltechnische Begriff
"elektronisch" erstmals auch mit inhaltlicher Funktion im Sinne einer
eigenen Kompositionsästhetik versehen. Man grenzte sich von der
bisherigen Verwendung elektrischer und elektronischer Klangerzeuger ab
und knüpfte die Theoriebildung direkt an die Entwicklung der
zeitgenössischen Kompositionstechnik. Hier herrschte in den 50er Jahren
in Westeuropa die serielle Kompositionsweise vor.
Sämtliche Parameter eines Tones wie Höhe, Dauer, Lautstärke und
Klangfarbe sollten exakt bestimmt und auf der Grundlage von Prinzipien
angeordnet werden, die der von Arnold Schönberg entwickelten
Zwölftontechnik entlehnt waren. Die serielle Technik dehnte damit das
Prinzip der Bildung von Zwölftonreihen, welches ursprünglich auf die
Dimension der Tonhöhe beschränkt war, auf weitere musikalische
Parameter aus. Dabei entzog sich jedoch die Dimension der Klangfarbe
hartnäckig einer genaueren seriellen Kontrolle.
Der Mathematiker und Physiker Fourier (1768-1830) hatte gezeigt, dass
alle existierenden Klänge in ein Gemisch aus einfachen
Sinusschwingungen sind (Fourier-Theorem). Die grundlegende Idee von
Herbert Eimert und Karlheinz Stockhausen war, an Stelle
traditioneller Musikinstrumente fest definierbare Klänge zu verwenden, die
aus einzelnen Sinustönen zusammengesetzt sind, und damit das
Parameter Klangfarbe sicher zu kontrollieren und in musikalische
Reihenbildungen zu integrieren. Das Ziel war weniger die Erweiterung des
Klangfarbenspektrums als ein Gefügigmachen der Klangfarbe zu einem
seriell gestaltbaren Kontinuum aller bekannten und unbekannten, aller
denkbaren und möglichen Klänge, angefangen vom einfachen Ton über
Klänge und Tongemische bis zu komplexen Geräuschstrukturen.
Vergleichbar plagiatfreien Melodieverläufen sollte jede elektronische
Komposition ihre eigene einmalige Klangwelt erhalten. Um die Gefahr des
Sichverlierens in dieser noch unabsehbaren Klangwelt für den
Komponisten zu begrenzen, versuchte Meyer-Eppler ein Netz von
mathematischen Wegweisern zu formulieren.
Werner Meyer-Eppler, Elektronische Musik, in: Fritz Winckel (Hrsg.),
Klangstruktur der Musik, a. a. O., 156-157.
Zur praktischen Realisierung reichte zur Anfangszeit die Grundausstattung
eines normalen Rundfunkstudios: Tongeneratoren, die sinusförmige
Ausgangsspannungen lieferten, kombiniert mit Rechteck-, Impuls- und
Rauschgeneratoren, Filtereinrichtungen sowie die damals üblichen
Rundfunk-Magnetbandgeräte. Der eigentliche Teil der Arbeit begann erst
nach der Aufzeichnung der Klänge auf dem Magnetband. Dabei
dominieren vor allem Bandschnittverfahren. Herbert Eimert unterschied
hier allein zwölf verschiedene Manipulierungsarten.
Herbert Eimert, Elektronische Musik, in: Die Musik in Geschichte und
Gegenwart, Bd. 3, (Bärenreiter) Kassel, Basel 1954, 1 263-1268.
Als offizielles Geburtsdatum der elektronischen Musik gilt der 26. Mai
1953. Auf dem vom Nordwestdeutschen Rundfunk organisierten Kölner
»Neuen Musikfest 1953« wurden vier erste Stücke von Robert Beyer und
Herbert Eimert vorgestellt (u.a. Klangstudie II). Diese Präsentation
beendete eine etwas prekäre Situation, in der sich die elektronische Musik
seit ihrer gedanklichen Zeugung 1949/50 befand: Eine neue Musikrichtung
machte auf sich aufmerksam, ohne auch nur eine fertige Komposition
vorweisen zu können.
Der 1901 geborene Komponist und Tonmeister Robert Beyer (1901-
1989) beschäftigte sich bereits seit Jahrzehnten mit dem Gedanken einer
technologischen Zukunftsmusik.
Robert Beyer, Das Problem der kommenden Musik, in: Die Musik,
Stuttgart, 20(1928), 12, 861-866.
vgl auch Leo Kestenberg (Hg.), Kunst und Technik, 1930, epOs 2000
Auf der Detmolder Tonmeistertagung 1949 begegnete er dem Bonner
Phonetiker und Kommunikationswissenschaftler Werner Meyer-Eppler
(1913-1955), dessen Buch "Elektrische Klangerzeugung" im selben Jahr
veröffentlicht wurde. Bereits ein Jahr später, während der Darmstädter
Ferienkurse 1950, konnte man unter dem vielversprechenden Titel "Die
Klangwelt der elektronischen Musik" drei Vorträge von Beyer und Meyer-
Eppler hören. 1951 fand in Darmstadt eine Arbeitstagung zum Thema
"Musik und Technik" statt, auf der Meyer-Eppler bereits erste
elektronische "Klangmodelle" präsentierte. Neben Friedrich Trautwein,
dem Erfinder des Trautoniums, und Theodor W. Adorno, einem
maßgeblichen Theoretiker der neuen Musik, tauchte hier auch erstmals
der Name Herbert Eimert im Kreis der Referenten auf.
Herbert Eimert (1897-1972) studierte Komposition und
Musikwissenschaft, arbeitete als Rundfunkredakteur, Musikkritiker und
Leiter des Nachtprogrammes des Nordwestdeutschen Rundfunks ("Die
Klangwelt der elektronischen Musik", 18. Oktober 1951). Gründung eines
elektronischen Studios Frühjahr 1952. Neben Robert Beyer, Werner
Meyer-Eppler und Herbert Eimert gehörte der Tonmeister Fritz Enkel zur
ersten Besatzung des Studios. In dem Maße, wie Eimert sein serielles
Konzept der elektronischen Musik zu einer Art Ideologie ausbaute,
kollidierte er zunehmend mit den Ansichten Beyers, der derartige
Festlegungen für unnötig hielt, was am Ende zu Beyers Ausscheiden aus
dem Kölner Studio führte (1953). Eimert holte neben Paul Gredinger
(*1927, heute in Zürich?), Henry Pousseur(*1929 in Malmédy, heute in
Liège) und Karel Goeyvaerts (*1923 in Amsterdam, heute in Brüssel)
auch Karlheinz Stockhausen ins Kölner Studio.
Stockhausen, * 1928, studierte Klavier und Komposition und hatte
1952/53 in Paris, neben Studien bei Olivier Messiaen, bei Pierre
Schaeffer die Musique concrète aus unmittelbarer Nähe kennengelernt.
Diese auch praktischen Erfahrungen - Stockhausen realisierte in Paris
1952 eine Musique-concrète-Studie - verschafften ihm in Köln
optimale Voraussetzungen beim Umgang mit dem neuen musikalischen
Material.
Noch im August 1953 stellte er seine " Studie I" fertig, die nur aus
Sinustönen zusammengesetzt war und als das erste realisierte Stück auch
den theoretischen Intentionen der elektronischen Musik entsprach. Das
heißt, aus einer dem Stück zugrunde liegenden Strukturidee wurde hier
auch die Struktur der Materialerzeugung abgeleitet. Anstatt einer
Verschmelzung der Sinustöne zu neuen komplexeren Klängen erscheinen
die einzelnen Sinuston-Komponenten separat hörbar und sind damit leicht
identifizierbar. So entsteht statt einer neuen Klangqualität eher der
Eindruck von aus Sinustönen gebildeten Akkorden. Zum anderen erhalten
die einzelnen Sinustöne dank ihrer leichten Identifizierbarkeit eine eigene
Klangqualität, etwa vergleichbar dem spezifischen Klang eines einfachen
Musikinstruments irgendwo zwischen Flöte und speziellen Pfeifenorgel-
Registern.
Theodor W. Adorno bemerkte, elektronische Musik höre sich an, als
trüge man Kompositionen von Anton Webern auf einer Wurlitzer-Orgel
vor.
Theodor W. Adorno, Das Altern der Neuen Musik (1954), in: Gesammelte
Schriften Bd. 14, (Suhrkamp) Frankfurt (Main) 1973, 160.
Im Gegensatz zur aus dem Fourier-Theorem abgeleiteten Hypothese (als
ursprünglichem Ziel der Komponisten!) waren die ersten Ergebnisse - so
formulierte es der Komponist Henry Pousseur später
Henry Pousseur, Calculation and Imagination in Electronic Music, in:
Electronic Music Review No. 5, Trumansburg (New York), January 1968,
22.
meist sehr entfernt vom ursprünglichen Ziel der Komponisten, und, alles
in allem, enttäuschend. Technischen Problemen (z.B. Bandrauschen durch
Kopieren, statischer Klang) versuchte Stockhausen in seiner "Studie II"
(1954 ) u.a. durch Benutzen des Hallraumes zu begegnen, (höre auch
neuere, analytischere Fassung von Funk/Enders in CD-Qualität).
Um grundlegende Probleme der Frühphase elektronischer Musik zu lösen,
gab es nur einen Ausweg: die auch theoretische Anerkennung von
elementaren, nicht weiter teilbaren Einheiten oberhalb der Sinuston-
Ebene, die, wie z. B. ein Trompetenton, als eigene Qualität akzeptiert
werden. Damit aber war die Notwendigkeit klar, auf das ursprüngliche
Postulat der Reduzierung aller Klänge auf ein einheitliches und homogenes
Grundmaterial zu verzichten. Es erfolgte die Anerkennung von
verschiedenartigen Wellenformen als gleichberechtigte Quellen
kompositorischen Materials.
--> komplette Partitur
Das erste Werk, das dieser Entwicklung Rechnung trug, war der " Gesang
der Jünglinge"von Karlheinz Stockhausen 1955/56.
Der Grundgedanke war, zwischen Sprache und Musik ein Kontinuum zu
komponieren, um so Sprache als organischen Bestandteil übergeordneter
Kompositionsprinzipien in das Stück einzufügen. Nicht "Vertonung" eines
Textes im konventionellen Sinn, sondern Anwendung einheitlicher
kompositorischer Techniken auf Sprache und die elektronischen Klänge.
Zuordnungen von sprachlichen und elektronisch-instrumentalen
Elementen, wie Vokal - Sinuston, Konsonant - Rauschen und Plosivlaut -
Impuls. Im Verlauf des Stückes werden zunehmend die Verschiedenheiten
der einzelnen Elemente heraus gearbeitet
Zusätzliches Novum: Die bisherige einkanalige Wiedergabe wurde durch
fünf kreisförmig angeordneten Lautsprechergruppen um das Publikum
herum zum Klang im Raum, einem neuen kompositorischen Parameter.
Darin auch erstes Zulassen von Zufallsoperationen in der Aufführung.
1957 "Scambi" ( Henry Pousseur) mit bewusst eingesetzter Aleatorik
auf klanglicher und struktureller Ebene.
Als Ausgangsmaterial verwendete Pousseur Klänge mit hohem
Geräuschanteil, die anschließend (mit verschiedenen Bandpässen) gefiltert
wurden. Ein Amplituden-Analysator selektierte den Frequenzbereich mit
der stärksten Amplitude, und machte lediglich diesen Bereich des Klanges
hörbar. So wurde ein kontinuierlicher Klang von schwankender Intensität
in unterbrochene Signale umgeformt, die jeweils die Intensitätsspitzen der
Ausgangsklänge markierten. Näherte sich der Ausgangsklang weißem
Rauschen, so wurden die statistischen Schwankungen in eine zunehmend
aleatorische Folge von Klängen umgewandelt.
Die mit der Aleatorik gemachten Erfahrungen ließen nicht nur Henry
Pousseur zu der Erkenntnis gelangen, daß die kompositorische Technik
elektronischer Musik sich nicht unbedingt vollständig negierend in Bezug
auf traditionelle kompositorische Techniken verhalten sollte, sondern eher
nach Möglichkeiten der Integration gesucht werden sollte.
Henry Pousseur, a. a. O., 24
1958 "Artikulation" ( György Ligeti) Dazu der Komponist: "Zuerst
wurden Typen mit verschiedenen Gruppenmerkmalen und verschiedener
innerer Organisation gewählt: quasi körnige, brüchige, fasrige, schleimige,
klebrige und kompakte Materialien. Eine Untersuchung der gegenseitigen
Permeabilität ergab, welche Typen einer Verschmelzung fähig waren, und
welche sich abstießen. Die serielle Anordnung dieser Verhaltensweisen
diente als Grundlage für den Aufbau der Form, wobei im Detail Kontrast
der Typen und der Art der Verquickung erstrebt wurde, in der Gesamtheit
jedoch ein graduelles, irreversibles Fortschreiten von anfangs heterogenen
Dispositionen zu einem Vermischen und Ineinanderaufgehen der
gegensätzlichen Charaktere."
György Ligeti, Wandlungen der musikalischen Form, in: die reihe VII (UE)
Wien, Zürich, London 1960, 14.
Das Bestreben Ligetis, einen möglichst großen Klangbereich - vom extrem
Geräuschhaften bis zum reinen Sinuston - als einheitliches Kontinuum
kompositorisch zu gestalten, weist in zwei Richtungen des Komponierens:
1.) Einbeziehung von live zu einem Tonband spielenden Instrumentalisten
bzw. Vokalisten
2.) Zunehmende elektronische Transformation von realen Klängen
beliebiger Herkunft
1959 "Omaggio à Joyce" (Luciano Berio)
Sprechende und singende Stimmen werden in unterschiedlichen Stufen
elektronisch bearbeitet und erhalten dadurch oft Instrumentalcharakter.
Bei der musikalischen Formbildung treten serielle und aleatorische
Prinzipien mehr und mehr in den Hintergrund. Oftmals wird die Intuition
des Komponisten, wie hier bei Berio, zur dominierenden Instanz.
Weitere Versuche durch (auch stufenlose) Erhöhung und Erniedrigung der
Wiedergabegeschwindigkeit der Magnetbänder. Aus den
diskontinuierlichen Tonbandaufzeichnungen wurde mit einem Mal ein
neuer kontinuierlicher Klang. Bei näherer Untersuchung stellte sich
heraus, daß ab einer bestimmten Geschwindigkeit die so entstandenen
Transformationsprodukte außerhalb des menschlichen Hörbereiches lagen,
bzw. bei zunehmender Verlangsamung der Geschwindigkeit in einzelne
Spannungsimpulse übergingen. Karlheinz Stockhausen untersuchte dieses
Phänomen genauer. Erster Einsatz von Bandschleifen-Technik.
Bei einer bestimmten Abspiel-Geschwindigkeit von Bandschleifen mit
derartigen Impuls-Patterns begannen die einzelnen Impulse zu einem
einheitlichen Klang zu verschmelzen. Die so erzeugten Klänge sind in ihrer
Struktur äußerst komplex und enthalten nicht selten starke
Geräuschanteile. Damit waren diese Tongemische den aus einfachen
Sinustönen zusammengesetzten Klänge in puncto Lebendigkeit und
Interessantheit weit überlegen.
Der entscheidende Unterschied zur ursprünglichen Überlegung in Köln war
aber die Tatsache, daß anstatt der Aufspaltung eines Klanges nach den
theoretischen Prinzipien der Fourier-Analyse nun die Untersuchung der
realen Elemente auf dem Tonband und die verschiedenen Stufen ihrer
Transformation im Mittelpunkt standen.
1959/60 "Kontakte" (Stockhausen) Umfangreiche Anwendung von
Impulsklängen.
Der insgesamt 40minütige realisierte Teil der Komposition existiert in
zwei von Stockhausen parallel konzipierten Versionen: einer rein
elektronischen Fassung für vier Lautsprechergruppen und einer Fassung
für elektronische Klänge, Klavier und Schlagzeug. Die Version mit Klavier
und Schlagzeug ist durch vierkanaliges Tonbandeinspiel auch live
realisierbar. Mehrere Dinge sind nun an diesem Stück bemerkenswert.
Ausgangspunkt war, ähnlich wie bereits beim »Gesang der Jünglinge«, die
Idee eines großen kontinuierlichen Klangumwandlungsprozesses, hier
allgemein von dumpfen zu helleren Klängen. Als Zwischenstation in
diesem Prozeß sollten verschiedene Gruppen von Instrumentalfarben eine
Rolle spielen, die durch einen fortschreitenden Transformationsprozess
ineinander übergehen sollten. Diese charakteristischen Stationen waren
Metallgeräusch - Metallklang, Holzgeräusch - Holzklang und Fellgeräusch -
Fellklang. In der reinen Tonbandfassung ohne Instrumente versuchte
Stockhausen diesen Instrumentalfarben auf rein elektronischem Wege
möglichst nahe zu kommen, um dann - ebenfalls auf elektronischem Wege
- die unterschiedlichen Stufen der Transformation zu realisieren. Bei der
Fassung mit Klavier und Schlagzeug wurden nun alle diejenigen Passagen
von den Instrumenten bestritten, in denen der elektronische Klang dem
auch mit diesen Instrumenten erzeugbaren Klängen entsprach. Somit sind
die elektronischen Klänge hier auch als Vermittler zwischen speziellen
Instrumentalklangfarben interpretierbar.
Mit Stockhausens »Kontakten« endete 1960 die erste große
Entwicklungsetappe elektronischer Musik. Der Widerspruch zwischen einer
Formentwicklung mit mehr oder weniger starken Freiheitsgraden und der
ein für alle Mal festgelegten Aufzeichnung elektronischer Klänge auf einem
Magnetband verstärkte sich. Der Versuch, zwischen diesen Polen zu
vermitteln, forderte Komponisten zu neuen Ideen und Konzepten heraus.
Man begann, zunächst vereinzelt, elektronische
Klangtransformationsgeräte auch außerhalb der spezialisierten
elektronischen Studios zu verwenden. Instrumentalisten agierten in
diesem Fall auf einer Bühne in gewohnter Weise, zusätzlich jedoch wurde
ein Teil der live gespielten Instrumentalklänge durch ein Mikrofon
aufgenommen, und durch die elektronischen Apparaturen unmittelbar
bearbeitet, verformt, modifiziert. So ließen sich die Klangspektren der
originalen Instrumentalklänge erheblich erweitern. Diese, als Live-
Elektronik bezeichnete Technik erschloß auch traditionellen Instrumenten
neue Ausdrucksbereiche. Eines der ersten Stücke, welches sich dieser
neuen Technik bediente, war "Mixtur" (1964) für Orchester,
Sinusgeneratoren und Ringmodulator von Karlheinz Stockhausen. Der
Orchesterklang gelangte über verschiedene Mikrofone zu einem zentralen
Mischpult, von wo aus dann die einzelnen Klangmanipulationen
vorgenommen wurden. Diese Veränderungen waren sofort im Saal über
Lautsprecher zu hören. Auch die Stockhausen-Stücke "Mikrophonie l"
von 1964 für Tamtam, zwei Mikrofone, zwei Filter und Klangprojektion
sowie "Mikrophonie II" von 1965 für zwölf Sänger, Hammond-Orgel und
vier Ringmodulatoren basieren auf diesem Prinzip. Als ein Problem der
Live-Elektronik erwies sich eine wachsende Abhängigkeit des
Interpreten von Personen, die für die elektronischen Manipulationen
zuständig waren und sie so mit beeinflussten.
Ab 1964 Entwicklung des spannungsgesteuerten Synthesizers durch
Robert Moog
Über einfache elektronische Klangveränderungen hinaus waren jetzt auch
live-elektronische Techniken möglich, wie sie bisher nur im elektronischen
Studio realisiert werden konnten. Vor allem die zahlreichen Möglichkeiten
der Klangmodulation gewannen an Bedeutung.
Weiterhin wurden in den 60er und 70er Jahren reine Tonbandstücke in
den Studios für elektronische Musik realisiert. Dabei ist bemerkenswert,
daß Synthesizer auf die Produktionstechniken innerhalb der Studios nicht
den revolutionierenden Einfluß ausübten wie im Bereich der Live-
Elektronik. Viele Komponisten bedienten sich zwar häufig einzelner
Synthesizer-Baugruppen zur Klangmodifizierung und auch -erzeugung, auf
Magnetband-Schnittechnik und Manipulationen durch
Studiobandmaschinen aber wurde trotzdem nur ungern verzichtet.
1971/72 "Horizont" (York Höller) Zur Produktion keinerlei Synthesizer
verwendet, sondern lediglich Methoden »aktivierter« Magnetbandtechnik
Hans Ulrich Humpert, Elektronische Musik. Geschichte-Technik-
Komposition. (Schott) Mainz, London, New York, Tokyo 1987, 134.
Neben reinen Tonbandstücken auf der einen und Live-Elektronik auf der
anderen Seite entstanden zunehmend Stücke, in denen Live-Interpreten
gemeinsam mit einem zuvor im elektronischen Studio produzierten
Tonband auftraten. Das Material auf diesen Tonbändern war äußerst
vielfältig. Es reichte von ausschließlich elektronisch produzierten bis zu
reinen Instrumentalklängen ohne jegliche elektronische Bearbeitung. Es
dominierten elektronisch modifizierte Instrumentalklänge, die dann bei der
Aufführung mit den live gespielten Instrumenten in Wechselwirkung
traten.
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Wolfgang Lack, 8.Juni 2002
osnabrueck.de/lehrende/enders/lehre/koelner_schule/em_koeln.htm?redir
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