...wie die Zeit vergeht...
Das serielle Denken nimmt seinen Ausgangspunkt in der Vorstellung von der "Einheit der musikalischen Zeit", die Stockhausen in seiner Abhandlung ...wie die Zeit vergeht... [18] proklamiert hatte. Besagte Theorie möchte aufzeigen, daß man es in der Musik primär mit zeitlichen Prozessen zu tun hat. Die Bestimmungsgrößen eines Tones - seine Höhe, Dauer und Klangfarbe - lassen sich als Zeitfunktionen beschreiben: die Frequenz als Anzahl der Grundtonschwingungen pro Sekunde, die Dauer als zeitliche Ausdehnung, zuletzt die Farbe als Überlagerung von Obertönen und Spektren in der Zeit.
Dabei handelt es sich um unterschiedliche Wahrnehmungsbereiche, in denen sich zeitliche Vorgänge in den verschiedenen Wirkungsebenen der Zeit ausdrücken: so sind Farbe und Tonhöhe im Bereich der "Mikro-Zeit" angesiedelt, während sich Rhythmus und Form in der "Makro-Zeit" abspielen. Koenig zufolge wären zum Beispiel "fünf Minuten - eine Formeinheit, fünf Sekunden - eine Tondauer, eine fünftel Sekunde - eine rhythmische Größe, eine fünfhundertstel Sekunde - daß Maß für eine Tonhöhe" [19].
Die Grenzen dieser Zeitbereiche sind jedoch nicht hermetisch gegeneinander abgeriegelt, sondern permeabel. So können qualitativ unterschiedliche Parameter - etwa Rhythmus und Tonhöhe - unmerklich ineinander übergehen, wie dies bereits am Beispiel des Pingpong-Ball-Experiments demonstriert werden konnte.
Wenn aber nun Rhythmus, Tonhöhe und Klangfarbe Zeitfunktionen darstellen, die in verschiedenen Wahrnehmungsbereichen angesiedelt sind und ineinander übergehen können, so verlangt dies auch die kompositionstechnische Vereinheitlichung der Parameterbehandlung. Die gleichen Prinzipien, die im Bereich der Tonhöhen ("Mikrozeit") gelten, haben auch auf dem Gebiet der Dauern ("Makro-Zeit") ihre Berechtigung. So lassen sich - ebenso wie Tonhöhen - auch Zeitwerte in "Zeitoktaven" zusammenfassen. Die Oktave, als Verhältnis von 2 : 1 definiert, wird im temperierten chromatischen Tonsystem in 12 gleich groß empfundene Glieder unterteilt. Die Relation zwischen zwei Halbtönen ist immer konstant und wird durch den "Proportionalitätsfaktor" ausgedrückt; die 12. Wurzel aus 2.
Auf gleiche Weise läßt sich eine "chromatisch temperierte Skala der Dauern" [20] konstruieren. Die Dauer kann im herkömmlichen Notationssystem indes nur metronomisch bezeichnet werden, wobei die metrische Bezugseinheit (der sog. "Grundzeitwert": zum Beispiel die ganze Note) durch Tempoangaben differenziert wird. In Stockhausens Beispiel wird eine Dauernskala im Bereich zwischen einer und einer halbe Sekunde (eine "Dauernoktav" also) konstruiert, wobei folgende Metronomzahlen, bezogen auf die ganze Note, auftreten [21]:
MM = 60.0 MM = 84.9
= 63.6 = 89.9
= 67.3 = 95.2
= 71.4 = 100.9
= 75.6 = 106.9
= 80.1 = 113.3
Die nächste Dauernoktave liegt im Bereich einer halben und einer viertel Sekunde, also zwischen MM = 120 und MM = 226. Diese läßt sich aber ebenso durch den Wechsel der metrischen Bezugseinheit, des Grundzeitwertes, erreichen. Statt einer ganzen Note steht nun die Halbe, in der folgenden Zeitoktave die Viertel etc. etc.
Die Verwendung von logarithmischen Zeitskalen (die durch chromatisch- temperierte Teilung entstanden sind) garantiert ein wohlproportioniertes Ausgangsmaterial, das sich an unserer sinnlichen Wahrnehmung orientiert: wir empfinden eine solche Skala als ausgewogen und stimmig. Ein gleichmäßiges Ritardando oder Accelerando entsteht nun ebenfalls durch "temperierte" Teilung, ohne daß man sich dessen bewußt sein muß: die Verlangsamung bzw. Beschleunigung wird dann als regelmäßig erlebt, wenn das Verhältnis zwischen zwei benachbarten Zeitwerten konstant ist.
Würde man jedoch eine Zeitskala durch lineare Teilung erzeugen (bei der jeder folgende Wert um den gleichen Betrag größer wird), ist das Verhältnis zwischen den Glieder kein proportionales mehr: die langen Zeitwerten werden die kurzen dominieren, was in einer langsamen Durchschnittsgeschwindigkeit resultiert.
Eine Gegenüberstellung dieser beiden Unterteilungsmöglichkeiten möge den Unterschied demonstrieren:
log. Zeitskala lin. Zeitskala Index
_____________________________________________
100 100 0
147 250 1
215 400 2
316 550 3
464 700 4
681 850 5
1000 1000 6
In beiden Fällen handelt es sich um einen siebenstufigen Übergang von Zeitwerten zwischen 100 und 1000 Millisekunden (ms). Während die lineare Skala konstant ansteigt, wächst die logarithmische um den gleichen Faktor. Dies führt dazu, daß die kleineren Werte dort stärker vertreten sind und die Durchschnittsgeschwindigkeit dort schneller ist, wohingegen in der linearen Zeitreihe die kleineren Werte von den größeren "aufgefressen" werden [22].
Diese beiden Zeitunterteilungsprinzipien lassen sich natürlich als Computerprogramm allgemein formulieren:
trans (start, end, steps, mode)
Die Funktion trans führt also einen Übergang zwischen einem Startwert (start) und einem Endwert (end) und in einer bestimmten Anzahl von Schritten (steps) durch, wobei zwischen mehreren Übergangsfunktionen (mode) gewählt werden kann: logarithmisch, linear oder exponentiell.
In meinem bereits erwähntem auf xLOGO basierendem COMPOSE-Environment würde die Funktion
trans 100 1000 7 log
als Ergebnis eine Liste
> [100 147 215 316 464 681 1000]
liefern, die beliebig weiterverarbeitet werden kann.
http://www.essl.at/bibliogr/seriell-struktgen.html