Ich will hier auch mal eine kleine Theorie von mir zur Diskussion einbringen, die vielleicht passt.
Ihr kennt ja wahrscheinlich alle den "Gefällt mir." Button, mit dem man als Facebook-Mitglied Seiten, Musik und alles mögliche öffentlich markieren kann. Meiner Meinung nach bringt dieser Button den aktuellen Zeitgeist ganz gut auf den Punkt...
Mal ganz ohne Verschwörungsanteil: Medien (Tv, Zeitschriften, Blogs, Internet, Social Networks) erzeugen Feedback: Sie berichten über das, was Quoten bringt, was Leute vor den Schirm hält, was die mehrzahl der Leute sehen wollen. Blogs, die nicht gelesen werden, verschwinden irgendwann, Fernsehwerbung, die unverkäufliche Produkte anpreist, verschwindet, Informationen in Social Networks, die nicht auch *gelesen* werden, haben keinen gesellschaftlichen Einfluss.
Durch diese Feedback formen Medien *einerseits* die Gesellschaft mit, aber *andererseits* eben auch nur, weil sie die Gesellschaft reflektieren, und sehr genau auf Informationsbedürfnisse der Leute abgestimmt sind. Angepasst ans Mittel natürlich.
Wenn Mediennutzung insgesamt bedeutsamer wird, also beispielsweise zum TV noch Blogs und Internet hinzukommen, wird dieses Feedback stärker.
Meine These ist nun: Das "ehrliche Interesse an den Dingen" lässt in der Bevölkerung genau wegen dieses verstärkten Feedbacks nach. Der Feedback-Mechanismus schlägt den Leuten viel stärker Dinge vor, die interessant sein *könnten*. Sie müssen dazu nur noch "Gefällt mir" anklicken, und empfehlen irgendein Ding damit ungerichtet allen anderen. Interesse und Beschäftigung mit der Sache ist für diesen Klick nicht erforderlich, und auch nicht für den Klick im IDings-Store, um sich irgendein beliebiges Stück zu laden.
Ich habe neulich einen Retrotechnik-Blog abonniert. Ich interessiere mich dafür. Ich bekomme jetzt alle paar Tage lustige Retrotechnik zum Ansehen präsentiert. Das ist wesentlich leichter, als Ebay zu durchstöbern oder Flohmärkte zu besuchen. Es stillt kurzfristig das Interesse, aber es ist überhaupt nicht dasselbe. Es ist nicht aktives agieren, suchen, erreichen, es ist stattdessen eher passives reagieren, finden, erhalten. Um etwas zu tun, sich also TAT-sächlich mit einer Sache zu beschäftigen, braucht man eine wesentlich stärkere Motivation, als irgendwo ein "Mag ich" anzuklicken, oder irgendeinen Feed zu abonnieren, oder Lady Gaga zu hören.
Ich denke also, die Fähigkeit des "sich interessierens" ändert sich durch die Medien, bzw. stärkere Mediennutzung - das wird in diesem Falle einfach stärker von außen angetriggert. Es sind Vorschläge. So viele, und so omnipräsent, daß eigenes Interesse damit überstrichen wird.
Dieses "von außen" soll hier explizit nicht heißen: von den Illuminaten, oder Großkonzernen, sondern von einem "außen" das wiederum aus der Gesellschaft entsteht.
Nochmal allgemeiner: Wenn einem ein "Ding" (ein Synthesizer, eine Musikgruppe, eine bestimmte Lebenseinstellung, eine Religion, oder was auch immer) etwas bedeutet, dann weil man dazu eine Bindung hat. Die entsteht durch *Beschäftigung* mit dieser Sache. Je mehr Eigeninitative darin steckt, desto stärker ist diese Bindung. Wenn diese Beschäftigung geringer ausfällt, und das Anklicken des "gefällt mir!"-Buttons ist davon gewissermaßen der Gipfel, wird auch die Bindung an und somit die Bedeutung des "Dings" geringer. Dieses Ding kann auch nicht mehr identitätsstiftend sein, wenn man nicht mehr getan hat, als "Ja" zu sagen im I-dentitäts-Store.
Kennt ihr das nicht auch, welche Gefühle ihr bei den Gedanken an euren ersten Synth habt? Oder an die Platten, für die ihr Vorbestellungen abgeben musstet? Und bei denen ihr jeden einzelnen Track auswendig kennt? Massive und ernsthafte *Beschäftigung* mit diesen Sachen hat diese Bindung und Bedeutung erzeugt. Die ungeheuren Bequemlichkeiten, die die moderne Techniken mit sich bringen, sorgen meiner Meinung nach dafür, daß diese Bindungen weniger stark ausfallen, weil man nichts mehr tun muß. Man muß sich nicht mehr interessieren, nicht "mitarbeiten" und kreativ sein, um Befriedigung zu bekommen, um Zugehörigkeiten zu bekunden, oder ganz allgemein und etwas drastischer: Um Anteil an der Welt zu nehmen.
Und zur Ausgangsfrage: Deswegen wird wohl auch das Entstehen einer neuen Musikkultur schwierig, die mehr einschließt als Lady Gaga bietet. Damit es eine Kultur wird, müsste es breites Interesse geben, und die Bereitschaft, sich mit etwas *auseinanderzusetzen*, die mehr ist als reiner Konsum. Für Beschäftigung mit einer Sache braucht man aber ehrliches Interesse. Damit es eine Kultur wird, braucht man ausreichend viele Leute, die dieses Interesse haben. So viel unaufgeforderte Eigenleistung ist die Masse einfach nicht gewohnt. So ganz ohne "Revolution? Gefällt mir."-Button.