Welche Genres decken "alles" ab? als grobe Einschätzung

Mein Problem mit der Auffassung, daß alles an "klassischer elektronischer Musik", also kontinentaleuropäisches Zeug von Künstlern, die schon vor 1980 populär waren, automatisch gleich Berliner Schule ist, ist, daß es automatisch impliziert, daß elektronische Musik keine ist, wenn sie nicht auf Stepsequenzen beruht. Macht es nicht unbedingt leichter, die Klassiker denen näherzubringen, die immer noch glauben, elektronische Musik wäre erfunden worden von – je nach Alter und musikalischem Background – Depeche Mode, Phuture, Westbam oder Deadmau5.

Vangelis spielt seine Synths per Hand ohne Maschinenhilfe direkt aufs Band und behält den ersten Take. Er macht Overdubs, aber fast nichts mit Sequenzen. Auch bei Jarre ist sehr viel per Hand gespielt und entsprechend organisch. Ist das deshalb keine elektronische Musik und nicht wert, erwähnt zu werden?

Das Problem ist ja auch, daß die ganzen Klassiker – auch Kraftwerk beispielsweise – aufkamen, bevor es diesen Schubladenwahn gab, damit DJs gezielter nach Musik suchen und Musikredakteure mit ein bis drei Worten 90% einer Platte zusammenfassen konnten. Spätestens in den 90ern gab's dann den Wahn, die Klassiker in Schubladen zu pressen, die erst in den späten 80ern oder in den 90ern aufkamen. Okay, ja, Jarre, das ist dann Ambient, weil das so "entspannend" ist im Vergleich zu, was weiß ich, Techno oder Hardcore oder Trance. Tatsächlich entzog er sich derart jeglichem Genredenkens, daß "Oxygène 4" 1977 in den USA die Popcharts, die Jazzcharts, die Klassikcharts und die Countrycharts (!!!) gleichzeitig anführte. Natürlich paßte es in keine der Schubladen. Es paßt bis heute in keine Schublade.

Jarre selbst sagt ja auch, "elektronische Musik" ist kein Genre, sondern einfach nur ein Ausdruck der Arbeitsweise. Musik, die elektronisch gemacht wird. Über die Musik selbst, wie die aufgebaut ist, sagt das letztlich genau gar nichts aus. Auch wenn die ganzen EM-Berliner-Schule-Ultrafundis anderer Meinung sind – nämlich der Meinung, daß alles, was nicht maschinell gemacht und von vornherein dafür konzipiert ist, nicht als "elektronische Musik" gelten darf.

Komplett ausblenden, weil "irrelevant" und daher "unwichtig", kann man ihn auch nicht, auch wenn sich außer Kebu, der mehr für live bekannt ist als für Studioproduktionen, niemand je auf ihn berufen hat. 80 Millionen verkaufte Alben, mehr Zuschauer bei sechs Konzerten als Depeche Mode in ihrer ganzen Karriere, der Grund, warum Small Stone, Synthex und Eminent 310 so gehypet werden. Aber seine Art, Musik zu machen, gilt seit ca. 1983 als hoffnungslos veraltet.

Bei Vangelis könnte man versucht sein, ihn in "Soundtracks" zu stopfen. Und was ist mit dem Zeug, das er in den 80ern zwischen seinen Auftragsarbeiten gemacht hat? Da hat er eine Anzahl an Alben gemacht, die nicht für irgendeinen Film oder irgendeine Serie oder irgendeine Doku in Auftrag gegeben wurden. Auch er: seit 1983 (und das war das Blade Runner-Jahr) ein Relikt der Vergangenheit. Ohne ihn gäbe es den Deckard's Dream nicht, aber ich wage mal zu behaupten, 98% der verkauften Deckard's Dreams werden mit Stepsequencern gespielt.

Raggae auch nicht. Auch ein weites Feld.
Und dann kommen die Fundi, die sagen, daß es kein Reggae ist, solange es nicht in Jamaika gemacht wurde von jamaikanischen Musiker, die auch allesamt Rastafarians sind, und solange es kein Roots Reggae ist, in dem es um Jah und Rastafari und Irie und so geht.

Alles was den Planet Rock Rythmus hat... auch Paul Hardcastle (vieleicht schon Pop...)
Überwiegend Hip Hop.

Verrückt eigentlich, daß Arthur Baker im Prinzip den Groove von Kraftwerks "Computerwelt" auf einer 808 (die damit schon vor Acid House zum heißen Scheiß wurde) nachgebaut und damit die halbe Hip-Hop-Welt wuschig gemacht hat.

Ja, ist natürlich auch noch wichtig, die Genres zu kennen und nicht sagen ich mache House und macht eigentlich Gabba-Happy Hardcore oder so. ;-)
Happy Hardcore kennen hierzulande auch nur die Nerds. Für 99% der Menschen ist das Techno, weil es als "Techno" vermarktet wurde. Anfang der 90er war richtiger Techno, wie er gerade aus dem Berliner Untergrund kam (Westbam, Marusha, Dr. Motte usw. usf. etc. pp.), der heißeste vorstellbare Scheiß überhaupt. Was haben die Plattenfirmen gemacht? Haben auf allen möglichen Happy Hardcore das Label "Techno" geklatscht, weil a) das Volk mit "Happy Hardcore" nichts anfangen konnte, b) "Happy Hardcore" zu lang und zu kompliziert war, c) eh keine Sau™ den Unterschied kannte und d) tatsächlicher Techno gerade gehypet wurde wie nichts Gutes. Ich meine, für bestimmt 98% der Deutschen ist sowieso pauschal alles "Techno", was elektronisch, four-to-the-floor und aktuell maximal 30 Jahre alt ist. Die meisten haben noch nie irgendwas von House gehört.

War ein Jahrzehnt vorher nicht anders: Die Neue Deutsche Welle rollte gerade aus, aber alle möglichen deutschsprachigen Acts fingen an, deutschsprachige Musik zu machen, die mit Schlager nichts mehr zu tun hatte. Da haben die Plattenfirmen und die Musikpresse angefangen, da überall das Label "Neue Deutsche Welle" draufzuklatschen, um die Verkäufe anzukurbeln und sich 'ne goldene Nase dran zu verdienen. Die eigentliche Neue Deutsche Welle (bis 1980, Acts wie Palais Schaumburg) war so underground, daß die ganzen Popdudelfunkhörer noch nie was davon gehört hatten und glaubten, sie sei 1981 von Trio erfunden worden.
 
Mein Problem mit der Auffassung, daß alles an "klassischer elektronischer Musik", also kontinentaleuropäisches Zeug von Künstlern, die schon vor 1980 populär waren, automatisch gleich Berliner Schule ist, ist, daß es automatisch impliziert, daß elektronische Musik keine ist, wenn sie nicht auf Stepsequenzen beruht. [...]

Jarre selbst sagt ja auch, "elektronische Musik" ist kein Genre, sondern einfach nur ein Ausdruck der Arbeitsweise. Musik, die elektronisch gemacht wird.

Das ist eine sehr kluge Bemerkung, finde ich, und ich möchte versuchen, sie noch etwas zu erweitern.

Heavy Metal Fans ist es oft wichtig, dass die Musik von Hand gespielt ist. Running Wild (Rock'n'Rolf) haben mindestens ein Album gemacht, bei dem die Drums aus dem Sequencer waren. Das hat man ihnen seeeeehr kritisch auch unter die Nase gerieben. Ich würde aber selbst in dem Fall, wo alle Instrumente von Musikern gespielt werden sagen, dass Metal eine sehr elektronisch Musik ist. Es gibt praktisch kein Instrument in einer Metalband, dass ohne massiven Einsatz von Effekten gespielt wird. Ein Metal-Drumset ist ohne Einsatz von EQs, Limitern und Kompressoren, Hall usw. überhaupt nicht umzusetzen. Der Gesang auch nicht und von den Saiteninstrumenten müssen wir gar nicht erst reden.

Man könnte Musik danach einteilen, welcher Anteil an der Klangerzeugung elektronisch ist:

1. Naturinstrumente ohne Effekte
2. Naturinstrumente mit Effekten
3. Elektromechanische Instrumente (E-Gitarre, Hammond, Rhodes)
4. Elektromechanische Instrumente mit Verzerrern usw.
5. Sampler
6. Synthesizer

Mischformen sind natürlich denkbar, z.B. Kirchenorgel trifft Monimoog. In jedem Fall haben wir schon zwei Einteilungen: Sequencer ja/nein und den Grad mit dem der Klang elektronisch erzeugt wurde.

Das ist aber noch nicht alles. Besonders mit Samplern kann man sequencer-gesteuerte Musik machen, die natürlich klingt. Ich bin mir sicher, dass ein Großteil des volkstümlichen Schlagers elektronischer erzeugt wurde als bei der Contryrockband, die alles von Hand über verzerrte Fenderamps und einem Rhodes spielt. Trotzdem klingt der Schlager natürlicher als die Countryrockband.

Halten wir fest: Was "elektronisch" in der Musik bedeutet, hat mindestens drei Dimensionen:

(I) Sequencer ja/nein
(II) Elektronikeinsatz bei Klangerzeugung
(III) Naturähnlichkeit des Klangbildes

Jedes Ganre hat in diesem Modell einen eigenen Fingerabdruck: Metal verwendet meist keine Sequencer, hat aber einen mittleren bis hohen Elektronikeinsatz und klingt sehr unnatürlich. Volkstümlicher Schlager setzt Sequencer ein, benutzt sehr viel Elektronik bemüht sich aber um ein natürliches Klangbild. usw.

Ich wette einen Kasten Bier, dass in den aktuellen TOP 100 ist kein Stück, das nicht wenigstens einer der drei Dimensionen nach elektronische Musik ist.

Viele Grüße
Martin
 
So ein Fingerabdruck sagt aber auch trotzdem nichts über die Musik aus.
Es kann doch Musik mit dem selben Vektor wie Metal vollkommen andere Musik sein,
sagen wir Avantgarde basierend auf mittelalterlicher Minne-Lautenmusik.

Also ich finde das nicht uninteressant, wenn auch eher maschinenlesbar, man müsste es
für Menschen farblich oder grafisch codieren oder so. Aber es sagt eigentlich wenig aus.

Und ich möchte da nicht mit nem ähnlichen Fingerprint aufschlagen wie Musik die ich nicht ausstehen kann.
Schlager oder so.
 
So ein Fingerabdruck sagt aber auch trotzdem nichts über die Musik aus.
Es kann doch Musik mit dem selben Vektor wie Metal vollkommen andere Musik sein,
sagen wir Avantgarde basierend auf mittelalterlicher Minne-Lautenmusik.

Also ich finde das nicht uninteressant, wenn auch eher maschinenlesbar, man müsste es
für Menschen farblich oder grafisch codieren oder so. Aber es sagt eigentlich wenig aus.

Und ich möchte da nicht mit nem ähnlichen Fingerprint aufschlagen wie Musik die ich nicht ausstehen kann.
Schlager oder so.

;-) So ein Fingerprint sagt natürlich nicht alles über eine Musik aus, weil Taktarten, Tonalität, historischer Kontext und vor allem die Attitüde fehlen. Aber er sagt auch nicht nichts aus. Er zeigt, dass Genres, die ein sehr verschiedenes Publikum und Attitüde haben und auch verschieden klingen, Elektronik sehr ähnlich einsetzen können. Anders als das Zitat von Jarre oben nahelegt, kann Musik nicht allein -- aber zum Teil! -- durch die Art der Herstellung klassifiziert werden.

Schlager und Synthiepop haben vermutlich einen sehr ähnlichen Fingerprint, aber warum sind sie dennoch so verschieden?

Es ist auch in den Genres sehr interessant mal zu gucken, wie viel das Pubikum über die Art, wie die Musik entsteht, wissen. Ich vermute der durchschnittliche Hörer von Dieter Bohlens Erzeugnissen keinen Schimmer davon hat, wie das gemacht wird. Der Fan von The Art Of Noise weiß vermutlich eher mehr darüber.

Ich vermute das Wissen der Fans über den Entstehungsprozess der Musik nimmt zu, je weiter sich die Musik vom Mainstream entfernt!

Viele Grüße
martin
 
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Ich wette einen Kasten Bier, dass in den aktuellen TOP 100 ist kein Stück, das nicht wenigstens einer der drei Dimensionen nach elektronische Musik ist.
Das ist wie Zocken im Godmode, weil den Kasten hast Du bereits gewonnen ;-)

Ich habe mal eine kurze Liveaufnahme der Spastelruther Katzen gesehen. Da hatte der Quetschkommodenmann einen Midicontroller vor sich auf einem Stativ, der die Eingabetasten inklusive Bassknöpfe wie bei einem Akkordeon angeordnet hatte. Eben nur auf einer Ebene.

Ich ärgere so ahnungslose Stinos("Ich höre nicht aktiv Musik. Hauptsache, es dudelt was im Hintergrund."), die sich gerne über "Elektroscheiße" aufregen auch gerne damit, daß ihr so gern gehörtes Pop- und Black-Music-Zeuch auch größtenteils bis komplett elektronisch produziert ist. Was man mit ein bißchen genauerem hinhören auch gut mitbekommt.
Eine Alicia Keys(die ich übrigens sehr schätze) zum Beispiel ist zwar sehr wohl in der Lage, bei einem Liveauftritt professionell ein Klavier zu spielen, nur kann ich mir nur schwer vorstellen, daß für die Tonaufnahmen ein Konzertflügel im Studio steht. Also auch wieder sehr gute elektronische Sounds. Und da gibts es ja mittlerweile auch für den Privatmaxe plugins von phantastischer Klangqualität.
 
Zuletzt bearbeitet:
Ich hatte gestern im Nachbarthread meine Verzweiflung über die Kategorisierung von Musikstilen ausgedrückt,
ohne zu sehen, daß hier ein Tag zuvor ein neuer Thread darüber entstanden war.
Es tut gut, zu sehen, daß nicht nur ich in einem Beharrungszustand der tiefen Frustration über dieses Thema stecke,
sondern daß Brüder und Schwestern diesen teilen.

Vielleicht mag man ermessen, wie es mir geht, wenn ich allein mein Problem bei der EDM (Electronic Dance Music) darlege.
Ich habe zusammengedampft, was nur geht, aber es sind immer noch viele, und schlimmer, ich weiß, es sind nicht annähernd genug.

*** Electronic Dance Music EDM ***

...
Tech House John Digweed, Hernan Cattaneo

Über die Film-Diskussion neulich hab ich über das Soundtrack-Album zum Film ne schöne Electro/Ambieht/House-Perle von jenem Herrn Cattaneo gefunden, der in dem Forum bisher nur ein einziges Mal Erwähnugn fand, nämlich von dir :) :

Kevin Shields - Are You Awake? (Hernan Cattaneo Mix)


'Cattaneo' fiel ja neulich schon ein paar mal im Forum - aber der 'echte' namens Ivan. :cool:
Das Stück hier jedenfalls ist quasi die 12" Version des Originals von Kevin Shields - und wie es aussieht ist eine unveröffentliche Live-Version. Die find ich so in keiner Datenbank. Für 9 Minuten müsste aber melodisch oder strukturell etwas ehr apssieren. Aber der Sound an sich ist geil. Hat eine gewisse musikalische Verwandschaft mit "Quazar". Nur dass hier der Acid-Synth fehlt.
 


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