Klavierstücke
(geschrieben anlässlich der Produktion der Klavierstücke I-XI, Ende 1965, mit Aloys Kontarsky für CBS New York)
Karlheinz Stockhausen, Texte zur Musik 1963-1970, Band 3
Schallplatten-Produktion der Klavierstücke I-XI
Kompensation
Auf dem Flug von Düsseldorf nach Zürich am 29. Juni von 20.30-22.40 Uhr geriet die Caravelle in heftige Böen, und die Reste des servierten Abendessens wurden so schnell wie möglich abgetragen; nur Kontarsky, der die 'aufgewärmte' Flugmahlzeit abgelehnt hatte, behielt sein Tuborg-Bier in der Hand mit der etwas bekümmerten Bemerkung, dies sei wohl für Tage das letzte anständige Bier, das er zu trinken bekäme. Nach der Ankunft im Gartenhotel Winterthur machte er dann auch in der Bar sarkastische Bemerkungen über das einzig vorhandene Haldengut-Bier und schlief von 24.30 bis 8.30 »relativ schlecht«. Am Morgen nahm er - wie gewohnt - ein heißes Bad, sein übliches Frühstück mit Orangensaft, einem 3-Minuten-Ei, Tee mit Sahne und einem Brötchen mit Kirsch-Marmelade. Entgegen seiner Gewohnheit, aufs angeregteste über Bücher zu plaudern, Anekdoten im Originaldialekt zu erzählen und die neuesten >Spiegel<-Geschichten zu kommentieren, benutzte er während der Aufnahme jede Gelegenheit, von gekosteten und bevorstehenden gastronomischen Raffinessen laut zu träumen. Am ersten Aufnahmetag enthielt er sich vorsätzlich bis 22.00 Uhr jeglichen Alkohols, nahm mittags um 12.00 nur einen Espresso, um 14.00 im Gartenhotel ein Filet de Perche und eine Flasche Mineralwasser Hemiez, abends im Hotel Krone - dessen Küche er fortan pries - eine klare Ochsenschwanzsuppe, ein Rahmschnitzel mit Bandnudeln, Kopfsalat mit Essig und OI, einen Briekäse mit Schwarzbrot, ½ l Johannisberg Wein und 2 Flaschen Mineralwasser Hemiez. Er ging früh zu Bett und schlief »etwas besser« von 23.30 bis 8.30. Am folgenden Tag wählte er zum Mittagessen einen Tomatensaft, eine Saltimbocca Romana mit Spaghetti, einen Eiskaffee mit Schlagsahne, 2/10 1 Johannisberg-Wein, 2 Flaschen Mineralwasser; um 18.00 Uhr bestellte er eine Flasche Coca Cola und zum Abendessen (die warme Küche war bereits geschlossen) eine Bündner-Platte (geräucherter Bauernschinken) mit gemischtem Salat, ¾ l Johannisberg-Wein; anschließend aß er im Hause Kolbes noch ein Stück Eistorte Mövenpick und trank zwei Glas Cognac;
er schlief »ausgezeichnet« von 2.30 bis 8.30. Am Samstag den 3. Juli aß er mittags kurz vor der Abreise ein Steak Tartare und trank eine Flasche Mineralwasser. Am 14. November abends verbrachte Kontarsky nach der Landung im Züricher Flughafen die Wartezeit bis zur Abfahrt des Omnibusses mit einer Bloody Mary, und in der Bar des Gartenhotels bereitete er sich fürs Einschlafen mit zwei Flaschen Haldengut-Pilsener vor. Am 15. November mittags bestellte er ein Omelett mit Salami und eine Portion Ceylon-Tea High Grown; abends im Hotel Krone eine Brühe mit Mark, zwei Seezungen-Filets gebacken, geschnetteltes Kalbfleisch in Kräutersauce auf Spaghetti, ¼ l Johannisberg-Wein, 1 Flasche Mineralwasser Hemiez und eine Haselnußrolle. Dann gingen wir in die City Lichtspiele, und während des Films >Morituri< sah er mich von Zeit zu Zeit mit rollenden Augen an; dreimal machte ich ein Zeichen zum Ausgang, er aber blieb sitzen und zuckte mit der rechten Schulter. Nach dem Kino trank er in der Hotel-Bar zwei Scotch-Whisky John Haig, Red Label, on the rocks. Am 16. November kamen wir so spät zum Mittagessen, daß er »Im Silbernen Winkel«, der von Kuchen essenden Damen überfüllt war, nur noch unter drei warmen Speisen Rehpfeffer mit Spätzle, einen Kopfsalat und dazu Tee mit Zitrone wählen und bestellen konnte. Dafür wurde das Abendessen im Restaurant Schloß Wülflingen ein kleines Fest. Er verspeiste eine Brühe mit Mark ( je unvergleichlich besser war als die bisher erwähnten), sechs Stücke Saltimbocca Romana (den Reis schickte er zurück), noch einmal sechs Stücke Saltimbocca Romana, Kopfsalat; er trank ½ l Johannisberg-Wein; es folgten Crepes Suzette zusammen mit einer Portion Mocca; zu drei Glas Williams-Birnengeist wählte er eine Havanna-Zigarre 'Monte-Cristo', mit einem ausgedehnten Kommentar über europäische Einfuhrzölle für Zigarren (lobte die Schweiz wegen des Gewichtzolls) und über die Präparierung und Verpackung von Havanna-Zigarren. Am 17. November beendete er die Aufnahmen mit der Zusammenstellung des Mittagessens: Brühe mit Mark, 1/2 l Johannisberg-Wein, 1 Birne Helene, Mocca, 1 Glas Williams-Birne und 1 Upman-Havanna-Zigarre.
Ich habe die technischen und materiellen Einzelheiten der Tonbandaufnahme möglichst genau erwähnt, da ich bei dieser Aufnahme gelernt habe, wie sehr die Klangaufzeichnung, die Klangwiedergabe und sogar das Spiel des Pianisten von all diesen Bedingungen abhängig sind. Dieses war die erste Schallplattenaufnahme, bei der ich selbst zugegen war, und ich war erschrocken über die äußerst künstliche Situation, über das Ausmaß der 'Imponderabilien' und der technischen Eingriffe in die musikalische Sphäre.