The Dawn of Everything: A New History of Humanity
David Wengrow, David Graeber - 2021
Bin auf Seite 240 von 600. Die Autoren greifen eine ihrer Ansicht nach falsche, aber weitverbreitete These zur Frühgeschichte der Menschheit an:
Als Jäger und Sammler lebte die Menschheit in Freiheit. Mit der Landwirtschaft kam die Ungleichheit.
Hauptsächlich geht es um Anthropologie und Archäologie, aber es ist das politischste Buch aus dieser Ecke, das mir seit Stephen J. Gould untergekommen ist. Unter den Anthropologen herrscht Konsens, dass Jäger und Sammler egalitär lebten. Sie hatten, entgegen dem Klischee, keine Häuptlinge und keine Herrscher - oder zumindest keinen, den die Leute nicht dulden wollten. Lange Geschichte, wer mehr wissen will,
Christopher Boehm ist ein Einstiegspunkt.
Die egalitäre Gesellschaft der Jäger und Sammler ist weder in der Schule, in Film, Funk oder Print ein großes Thema. Das ist eine bedauernswerte Auslassung. Freiheit, Gleichheit, Hierarchie und Besitz sind sehr politische Themen. Gut, dass die beiden Davids auf den politischen Aspekt ihrer Arbeit hinweisen. Ein Blick auf unsere Geschichte könnte augenöffnend sein für die Gegenwart.
Die Autoren gehen zurück bis Rousseau und kontrastieren dessen Sicht vom "edlen Wilden" mit der Hobbesschen Philosophie des Leviathans, der Gesellschaft, die Kontrolle braucht.
"Aufklärung inspiriert von nordostamerikanischen Indianern"
Graeber und Wengrow behaupten, die europäische Aufklärung sei in Teilen von der Weltsicht Nordostamerikanischer Indianer beeinflusst worden, den Algonkin, den Wendat und den Miq'mak. Sie nennen
Kondiaronk, dessen Ansichten von Louis-Armand de Lom d’Arce in Europa veröffentlicht wurden. Zeitgenossen hielten die Veröffentlichung für einen Schwindel, bei dem d'Arce Kondiaronk zu seinem erfunden Sprachrohr macht, um selbst dem Verdacht aufrührerischer Ideen zu entgehen.
Ich kann das nicht beurteilen. Aber ich erinnere mich an eine Stelle bei Kant, in der er über die Irokesen schreibt, sie seien von allen Völkern eins der Fortgeschrittensten und würden in manchen Aspekten sogar die Europäer übertreffen, weil sie eine Art von Gleichberechtigung der Geschlechter entwickelt hätten. Was auch stimmt. Das Matriarchat ist ebenfalls über mehrere Seiten Thema im Buch.
PS: Im Buch heißt es, in der Sprache der Algonkin bedeute Irokese sowas wie "gefährlicher Killer".
"warrior kings vs. protestantic pacifism"
Die Autoren erzählen von der amerikanischen Pazifikküste. (Sie verorten das auf 1800 BC. Es ist mir entgangen, woher sie das so genau wissen.) Im Norden lebten "warrior king"-Stämme, die sich von saisonalem Fischfang ernährten und Krieg gegen Nachbarstämme führten, um Sklaven zu erbeuten. Die kalifornischen Stämme hingegen führten keine Kriege, hatten keine Sklaven und lebten von Eicheln und Nüssen.
Graeber und Wengrow fragen sich, woher der Unterschied in der Lebensweise kommt.
Warum betreiben die kalifornischen Stämme keinen Fischfang, obwohl sie könnten und verlegen sich stattdessen auf die arbeitsintensive sammelei? Sie betrachten mehrere Möglichkeiten.
- Saisonaler Fischfang heißt, du mußt Vorräte einlagern, die Begehrlichkeiten bei anderen wecken.
- Niemand hingegen wird dir deine Eicheln klauen, die vor dem Verzehr erst aufwendig gemahlen und verarbeitet werden müssen, um genießbar zu sein.
- Was die Autoren aber sofort wieder relativieren. Ohne Lasttiere wie Pferd oder Esel, sei es nicht rentabel, getrocknete Fische zu rauben, weil der Stoßtrupp auf dem Heimweg den Großteil der Beute verzehren müsste.
- Sie landen bei dieser Erklärung: Weil die Nordostindianer egalitär waren, ließ sich das Stammesvolk nichts von ihren Häuptlingen sagen. Die Häuptlinge konnten nur deshalb
warrior kings sein, weil sie Sklaven hatten, die für sie arbeiteten.
- Am Ende sagen die Autoren, die Nordost-Indianer und die kalifornischen Stämme hätten sich für ihre jeweilige Lebensweise entschieden.
Das erscheint mir ein bisschen herbeigezogen, woran auch immer.
Graeber und Wengrow stellen sich damit gegen die Thesen der
behavioral economists, die behaupten, eine Gesellschaft entwickle eine
optimal foraging strategy = sie nutzt das beste, was materiell zum Überleben zur Verfügung steht, was die Entwicklung bestimmter Gesellschaftsformen begünstigt.
Die Erklärung "die Stämme haben sich für ihre Lebensweise entschieden" - ist eine Sackgasse. Damit läßt sich alles erklären - und letztlich nichts. Es geht darum, Muster zu finden, warum sich Gesellschaften zu etwas entscheiden.
"Die landwirtschaftliche Revolution - war keine"
Die Autoren schildern nachvollziehbar, dass die landwirtschaftliche Revolution im fruchtbaren Halbmond 3000 Jahre gedauert hat. Passt. Aber wofür oder wogegen ist das ein Argument? Es gibt Berichte, dass Bier zu brauen zwanzig oder dreißigtausend Jahre alt und damit lange vor der Landwirtschaft entstanden ist. Von daher erscheint es mir naheliegend, dass die Entwicklung der Landwirtschaft etwas gedauert hat.
Dennoch haben Graeber und Wengrow ein sehr starkes Argument. Warum ging es nicht schneller? - nach theoretischen Überlegungen hätte es schneller gehen müssen. Exponentielles Wachstum und so.
Einer meiner persönlichen Highlights im Buch:
Laß den Fluß die Arbeit machen.
Landwirtschaft ist arbeitsintensiv. "Im Schweiße deines Angesichts" sollst du den Acker pflügen. Die Menschen im
lower fertile crescent haben es sich einfach gemacht. Sie haben den Fluß die Arbeit des Pflügens machen lassen und dann im Schwemmland gesät.
Vorläufiges Fazit:
Mir das Buch manchmal etwas zu weitschweifig oder repetitiv. Aber die Autoren haben zehn Jahre am Buch gearbeitet und es ist reich an Geschichten und Geschichtchen, also werde ich mich nicht beschweren. Mit den Folgerungen der Autoren bin ich nicht immer einverstanden. Dennoch: ihr Buch ist ein überzeugender Wink mit dem Zaunpfahl, dass man es sich nicht zu einfach machen sollte mit gutklingenden, etablierten Erklärungen. Meist ist die Wirklichkeit komplizierter, als man denkt.
Was das Buch nicht ist: beim Titel
Dawn of everything denke ich an die Menschheitsgeschichte seit Lucy. Bisher geht es im Buch nur um die Menschheitsgeschichte seit der letzten Eiszeit. Damit lassen die Autoren den Zeitraum aus, der erklärt, warum wir anders als Lucy sind war. In dieser Zeitspanne würde ich die Menschwerdung verorten.
Manchmal haben Autoren keine Kontrolle über die Titel ihrer Bücher. Vor der Erfindung der Landwirtschaft wäre das nicht passiert ...
