jaash schrieb:
ich verstehe das dilemma aber "jarre-gigantomie" ist da echt nicht gefragt _ mich nervt auch alles "wir sind ja so ausgeflippt und machen mit kunstblut rum ...)
Wobei Jarre ja von der Gigantomanie schon wieder runter ist. Es gibt mittlerweile etliche Acts, die größere Shows fahren als er. Deshalb kann er es sich ja auch erlauben, jedes Jahr (seit 2008) zu touren. Selbst die Projektionen hat er heruntergefahren. Gut, vielleicht mal ein paar Zahlen beim Statistics Adagio oder bei Equinoxe 7 eine Kamerafahrt durch ein fettes, 3D-gerendertes Moog-Modularsystem, das fast ein Viertel so groß ist wie das von Bernie, aber meiste Zeit gibt's nur bunte Lichter, Moving Heads und ein paar Laserscanner, also kleines Besteck.
Nee, Jarre baut jetzt auf andere Faktoren. Einer ist Gearporn. Die Show ist kleiner, das Zeugs auf der Bühne ist aber mehr geworden (mit Ausnahme der EMS-Synthis, die er früher schon mal im halben Dutzend mitgebracht hat). Bei der Oxygène-Tour 2008 hat er ja sogar einen Schwenkspiegel über der Bühne aufhängen lassen, damit auch die ganz hinten jedes Gerät sehen können. Der Experte kriegt dabei Stielaugen und vielleicht auch GAS. Und selbst der Laie denkt: "Heilige Maria von Bahia, hat der Unmengen an Maschinerie da stehen!" Ich meine, vier Keyboardburgen, von denen eine wohl alle Größenrekorde sprengt. Ist allerdings auch gerechtfertigt, weil fast die Hälfte von Jarres Synths nicht mal schnell auf andere Sounds umschaltbar ist, seit er wieder vermehrt auf Vintage macht. Wenn du einen Xils 3 hast, kannst du ratzfatz zwischen etlichen Sounds durchschalten. Wenn du einen echten VCS3 oder Synthi AKS hast, geht das nur sehr erschwert, und wenn du mehrere Sounds brauchst, brauchst du eben auch mehrere Exemplare von dem Gerät.
Der zweite Punkt: Der Mann rockt auf der Bühne mehr ab als zu Zeiten seiner Millionenshows. Gut, da hätte ihn auch kaum jemand abrocken sehen können. Aber er springt demonstrativ von einem Synth zum anderen, er heizt das Publikum an, er hängt sich mit gut 60 Jahren einen mehr als sechs Kilo schweren Moog Liberation um und macht Dinge damit, die sich sonst kaum ein Moog-Liberation-Owner trauen würde (und sei es, weil es ihm peinlich wäre). Nach anderthalb Stunden steht er auf der Bühne mit völlig verschwitztem Hemd, aber überglücklich. Und es scheint ihm auch ziemlich wurscht zu sein, daß alle seine drei Mitstreiter eigentlich fitter an den Tasten sind als er. Ernsthaft, als er noch geplaybackt hat, hatte er nicht annähernd so viel Fun. Man vergleiche das mal mit Acts, wo sich jeder hinter einem Laptop mit 25-Tasten-USB-Keyboard versteckt, sofern man das verstecken nennen kann.
A propos Playback, der dritte Punkt ist, daß Jarre auf totale Perfektion bei seinen Shows verzichtet. Zum einen kann so ein Echtanaloger mal aufmucken, selbst wenn ein Patrick Pelamourgues ihn wartet. Total Recall gibt's ja auch nicht bei einem Fuhrpark aus Instrumenten, die zu einem erheblichen Teil vor 1980 gebaut wurden. Zum anderen hört man bei
jedem Jarre-Konzert spielerische Abweichungen von dem, was man von den Alben gewohnt ist. So spielt er die Zwei-Finger-Hackfigur von Oxygène 2 jedes Mal anders, das Liberation-Solo von Oxygène 5 sowieso. Auch die Laser Harp spielt er nicht genau nach Noten, sondern baut immer ein paar kleine Abweichungen ein. Das macht die ganze Sache organischer, als wenn einer einfach nur Sequenzen und gesamplete Phrasen aus Ableton Live abfeuert, und außerdem kommt so nicht so leicht der Verdacht auf, daß er und seine Leute Vollplayback machen und/oder die Laser Harp ja eh nur eine Attrappe ist. Wobei, daß die Laser Harp echt ist, sollte jeder wissen, der mal miterlebt hat, wie sie rumzickt, wenn nicht alles 100% optimal ist. Unterm Strich klingt auch alles ein bißchen unsauber, Rolling-Stones-auf-Elektronik-mäßig, damit man auch hört, daß da elektronische Musik per Hand gemacht wird.
Es ist, als hätte Jarre sich angeguckt, was andere, moderne Elektronik-Acts so machen, und dann beschlossen, davon genau das Gegenteil zu machen.
Nur was haben wir davon, außer einer geilen Show zum Angucken, Anhören und vielleicht Ein-paar-Tricks-Mitnehmen? Herzlich wenig, denn selbst um so eine Show abzuziehen, braucht man irrsinnig viel Geriebenes, irrsinnig viel Platz, irrsinnig gute Nerven (mal spontan einen Sound woandersher holen, weil der Memorymoog wieder Sperenzien macht) und einen irrsinnigen Technikerstab. Ich meine, den meisten ist es schon zuviel, ein echtes Rhodes oder einen Juno mit auf die Bühne zu nehmen, weil zu anfällig. Und selbst eine Burg à la Joe Zawinul, die im Zeitalter von Viren, Novations, Waldorfs und Softsynths eigentlich auch schon überflüssig wäre, ist noch nicht groß genug, um die Leute mit Macht vom Hocker zu hauen.
fogman schrieb:
Schonmal daran gedacht mit seinem Geraffel über die Bühne zu stratzen?
Oder auf dem Tisch zu tanzen?
Lange Kabel, ein wenig Wahnsinn und ab dafür.
Genau dafür gibt's Keytars. Das traut sich bloß keiner, weil die Leute mit Keytars nicht Jarre oder Hancock assoziieren, sondern Modern Talking und die ganzen anderen Poser mit absurden Frisuren und absurden Klamotten in den späten 80ern. Und heutzutage wird in der Elektronik nur noch wenig händisch gespielt, und ein Ableton-Live-Controller zum Umhängen wäre Quatsch – nicht nur, weil es bescheuert aussehen würde, sondern weil eine Keytar blind spielbar ist, Ableton Live allerdings visuelle Rückmeldung erfordert.
florian_anwander schrieb:
PS: irgendjemand hat weiter oben geschrieben Jarre sei auf der Bühne langweilig. Das kann ich nicht bestätigen. ich find seine Musik so la la, aber es macht total Spass ihm bei einem Konzert zuzusehen.
Endlich mal einer, der das merkt.
Bernie schrieb:
Och nö, da steh ich doch lieber nur doof rum.
Und das sagt der, der hier von allen am ehesten einen Hradschin aus Synthesizern mit entsprechender Bewegungsfreiheit aufbauen könnte.
roechel schrieb:
geil wären immer 2 bis 3 leute due mit cams herumlaufen und den/die performer filmen.auf der/die keinwand mischt ein typ dann die bilder live ineinanderer ....somit sehen die leute auch hinter die dj-theke...egal ob mit laptop oder ned...dann würden nämlich auch die meisten playbackheroes enttarnt...zumindest bei den interessierten...
Wenn du für den NDR spielst, kannst du das durchaus haben. Ist uns mal passiert, und den On-Stage-Kameramann haben wir aus Platzgründen direkt neben meinem Platz halb einmauern müssen. Ich weiß nicht, wie oft der auf meinen Submixer gehalten hat...
serge schrieb:
…und dann beugt sich ein Typ zu mir rüber und fragt: "Habt Ihr hier drahtloses Internet?"
Vielleicht wollte er sein Händyvideo von euch mal eben in die Duröhre stellen, bevor ihm jemand zuvorkommt.
Andererseits, Festplattenstreaming von einer Festplatte, die gar nicht im selben Haus steht, hm...